Prag, von vielen als die Goldene Stadt bezeichnet, zieht jedes Jahr über vierzig Millionen Touristen an, die alle ein kleines Stück des nach Faszination, Geschichte und Geheimnis schmeckenden Kuchens abbeißen wollen. In kürzester Zeit werden sie über Trampelpfade aus Steinpflaster gelotst, von einer Sehenswürdigkeit zur Nächsten - von der Prager Burg auf die Kleine Seite, über die mittelalterliche Karlsbrücke zum den jüdischen Friedhöfen und vom Pulverturm zum Wenzelsplatz. Das ständige Bad in der Menge gibt es dazu kostenlos. Über hunderttausend Besucher werden täglich von der Stadt Franz Kafkas und Gustav Meyrinks verschluckt und wieder ausgespuckt.
Doch wer das wahre Prag kennen lernen möchte, muss den Mut haben, den entscheidenden Schritt zur Seite zu tun, heraus aus dem Menschenstrom. Gerade dann zeigt sich das "Hunderttürmige Prag", wie die Einheimischen es selbst nennen, von seiner stärksten Seite. Denn oft genügen nur wenige Schritte, nur ein unauffälliges Beiseitetreten, unbemerkt schlüpfend durch den Arkadengang oder die Seitengasse hindurch, um die echten Rätsel der Stadt zu entdecken. Und ihre Fülle scheint geradezu unerschöpflich zu sein.
So braucht ein neugieriger Geist, der mit der Menschenmasse in dem berühmten Viertel Kleine Seite ("Malá Strana") angekommen ist, nur einige Dutzend Schritte entlang der Karmelitská Ulice zu gehen, um bei der unscheinbaren Hausnummer 25 den Eingang zu einem der schönsten Barockgärten Europas zu finden. Der Vrtba-Garten ("Vrtbovská zahrada") ist eine originelle und joviale Anlage aus dem Jahr 1720 - erbaut in der Enge der für die Kleine Seite so typischen Hinterhöfe. In einem derartigen Hinterhof streckt sich der inzwischen von der UNESCO geschützte Garten durch ein System aus Treppen bis zu einem der Gebäudedächer hoch, um von dort einen atemraubenden Blick über die Stadt zu gewähren. Hier wo der "Genius loci" zu Hause ist, hört man nichts von den Horden grölender Australier oder Briten. Nur manchmal trägt der Wind ihre Stimmen vom Hofplatz der Prager Burg, die hier über den Dächern der "Malá Strana" zum Greifen nahe erscheint.
Es ist typisch für Prag, dass oft nur ein Sprung genügt, um so tief in dem historischen Stadtzentrum Orte der Stille zu betreten. Dort wo das blecherne Konzert aus Polizeisirenen und Autohupen plötzlich fern und unwirklich klingt, trifft man höchstens auf verträumte Studentinnen vom Karolinum beim Lesen einer Lektüre oder auf nachdenkliche Rentner, die in Reminiszenzen schwelgen. Die Touristen behalten Prag zumeist als eine Stätte des Lärms und der Unruhe in Erinnerung. Das aber ist nicht die Absicht der Erbauer gewesen. Das wirkliche Prag ist leise und verstohlen. Es ist ein heimlicher Blick auf geronnene Zeit. Es flüstert.
Doch um dieses Flüstern zu hören, ist es zwingend notwendig, aus der lärmenden Reihe zu treten und quer zu laufen. Auf der Suche nach rätselhaft klingenden Orten wie Karlín, Frantiskanská zahrada oder Letná. Erst dann offenbart sich das Geheimnis und der Tourist wird zu einem Reisenden.
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